Neustadt-Mussbach. Wie überträgt man das wohl bekannteste deutschsprachige Kinderbuch, den aus den 19. Jahrhundert stammenden „Struwwelpeter“, ins Heute? Diese Frage inspirierte Sarah Hakenberg zu ihrem aktuellen Kabarettprogramm „Struwwelpeter reloaded“. Wahrscheinlich war es neben der zunehmenden Medienpräsenz der Kabarettistin vor allem dieses Thema, das am Samstag weit über 200 Gäste in die ausverkaufte Festhalle des Mußbacher Herrenhofes strömen ließ.
Zur Überraschung vieler tritt die Kabarettistin, die nach Stationen in München und Berlin heute in Ostwestfalen lebt, in Mußbach deutlich sichtbar schwanger auf. Darüber, dass ihr Kind alles mithöre, mache sie sich keine Sorgen, sagt sie: „Es kommt zur Welt und weiß schon alles!“ Sorgen scheinen wirklich fehl am Platze, die Künstlerin ist trotz ihres hin und wieder recht sarkastischen Humors entspannt, ihr Klavierspiel auf dem wundervoll gestimmten Flügel, mit dem sie die eigenen Lieder begleitet, ist gekonnt und angenehm.Von Beginn an tritt sie in einen lebendigen Dialog mit dem Publikum und lässt literarisches Kabarett folgen, indem sie anhand des „Struwwelpeters“ eine Art Crashkurs durch die Kulturgeschichte gibt. Das Buch, das von „unartigen“ Kindern handelt, die nicht auf Erwachsene hören und denen deshalb meist ziemlich Übles widerfährt, wurde bekanntlich 1844 von dem Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann geschaffen, der zum Weihnachtsfest kein geeignetes Kinderbuch für seinen Sohn fand und deshalb selber zu Tintenfüller und Zeichenstift griff. Über das Ergebnis wird bis heute kontrovers diskutiert: Womöglich wollte der humanistisch orientierte Hoffmann sich eher über die Erziehungsmethoden seiner Zeit lustig machen und den Kindern durch Lachen die Angst nehmen, anstatt ihnen mit den überzogenen Geschichten eine starre Moral zu vermitteln.Wie auch immer, Hoffmanns Entschluss zeigte große Wirkung: Mittlerweile gibt es über 1000 verschiedene Ausgaben und Übersetzungen des Buches. Wobei gerade die Widersprüche zu unterschiedlichsten Interpretationen verleiteten, wie etwa den kriegsbegeisterten „Militärstruwwelpeter“ der Kaiserzeit oder den englischen „Struwwelhitler“, der 1941 die deutschen Faschisten verspottete. Beinahe zwangsläufig wurden im Zuge des sich verändernden Zeitgeistes 1970 ein „Anti-Struwwelpeter“ und 1980 gar ein „Schwuchtelpeter“ veröffentlicht.
Hakenberg steuert nun für unsere Gegenwart eigene, lustige und scharfzüngige Interpretationen bei. Der zunächst noch dicke „Suppenkasper“ wird bei ihr zum „drallen Kalle“, der wegen zu vielen „Happy Meals“ bei McDonald’s in der Röhrenrutsche steckenbleibt. Der „Zappelphilipp“ leidet an Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und wird im Lied „Ein Hoch auf legale Drogen“ mit jeder Menge Psychopharmaka ruhig gestellt. „Hans guck in die Luft“ wiederum läuft in der modernen Version als „Mandy guckt aufs Handy“ vor ein Auto. Der tierquälerische „böse Friederich“ schließlich geht in Anlehnung an Georg Kreisler „Hündchen lynchen in München“.
Doch nimmt sich Sarah Hakenberg nicht ausschließlich die Geschichten im „Struwwelpeter“ vor. Durchaus mit selbstironischem Einschlag singt sie auch ein etwas gehässiges Lied auf die neue Freundin eines „Ex“, die er nach kurzer Zeit schwängerte. Und in der Zugabe hinterfragt sie, ob ihre derzeit harmonische Beziehung mit ihrem Mann gut für ihre Kreativität sei, da sie für das Schöpferische eigentlich Krisen brauche: „Hack mir ein Bein ab oder schrei mich wenigstens an, mach sexistische Witze, finde Seehofer spitze, bete Bayern München an!“ Soweit lässt sie es dann zum Glück nicht kommen – noch vor dem Stichtag für ihr Kind steht sie mit einem neuen Soloprogramm „Nur Mut!“ auf der Bühne. Am Ende ein gelungener Abend, in dem die Kabarettistin in ihren Liedern grundsätzliche Fragen aufgreift und so witzig und scharfsinnig humane Botschaften mit Langzeitwirkung versteckt.
Von Oliver Steinke