Von Birgit Karg
Eins vorab: Dieter Hildebrandt hätte seine helle Freude gehabt. Denn der 42-Jährige aus dem Ruhrgebiet ist ein brillanter Intellektueller, der den großen Wurf verfolgt. Ein Überzeugungstäter, dessen Programm „Heimsuchung“ um nichts Geringeres als Leben und Tod kreist und dabei die Abgründe menschlicher Existenz auslotet.
Er glaube an die „exorzierende Kraft von Kabarett und Satire“. Mit Blick auf Politiker wie Jens Spahn („das Shetlandpony unter den geistigen Rennpferden in unserem Land“) und Robert Habeck („groß, grün, stark, der Hulk der Bundespolitik“) sei die Zeit der bösen alten Männer endlich vorbei. Die Politik werde immer komplizierter.
Das Land? Visionslos und denkfaul. Der Instagram-Influencer als „Hochleistungsmensch“ sei die neue Leitfigur in einer digitalen Welt, die das Machbare, ökonomisch Optimale feiert. Eine Jugendkultur, kritisch, protestlerisch? Gibt es nicht mehr. Junge Leute im Selbstoptimierungswahn hängen ab im „MacFit“ („Hermann Görings Betriebskantine“), dabei finde man in einem gesunden Körper längst keinen Geist mehr. Stattdessen allerorten „durchoptimierte Iche“, die, von der Industrie geliebt, der „Gedankenprothese“ des Algorithmus folgen. Der digitale Mensch als „maschinell gestanztes Panini-Bildchen“ lebe im Safer Space eines „digitalen Biedermeier“ voller Angst und Befindlichkeiten. Die Leute da draußen, seien immer gereizter, spießiger, „nur noch schlecht gelaunte Paranoiker da draußen“.
Im zweiten Programmteil analysiert Sydow menschliches Verhalten: „Große Sprünge, leerer Beutel“, wir leben nach dem Känguru-Prinzip. Wie gehen wir miteinander um? Die Alten abschieben ins Heim („Zitterbunker“, „Sterbelaube“) und gleichzeitig die Pflege den Marktgesetzen unterwerfen in einem System, das 400 Krankenkassen unterhält. Sydow legt den Finger in die Wunden einer durchökonomisierten, digitalisierten Welt, als leidenschaftlicher Humanist und intellektueller Überzeugungstäter entlarvt er das Unmenschliche und bricht dabei eine Lanze für Pflegekräfte, Putzfrauen, Müllmänner, ohne die „die Welt zusammenbrechen“ würde.
Stattdessen gehe es in einer „Gesellschaft der Iche“ nur noch um Rendite, um Gier. Zwischen Reichtum und Leistung gibt es keinen Zusammenhang mehr. Proletarier-Stolz? War einmal. Stattdessen schämen sich Arme ihrer Armut. Und die Politik? Singt unverfroren das Loblied der Globalisierung und Vollbeschäftigung, vom tapferen Rentnerlein und „Arbeit, die sich lohnt“.
Stichwort Corona: Abseits der Pandemie seien die drei größten Epidemien unserer Zeit Übergewicht, Kurzsichtigkeit und Einsamkeit. Auch hier liege die Wurzel allen Übels im Digitalen. Bilderflut, Datenstrom und Belohnungssystem, „man meint, alles sei im Fluss, dabei ist alles im Eimer“.
Seine Gedankenwürfe entwickelt der Kabarettist mit brachialer Wortgewalt und gnadenlos bitterer Ironie. Das mag manchmal übers Ziel hinaus schießen, einige Zuschauer (Stichwort „Alte und selbstfahrendes Auto“) fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Doch ist bei René Sydow intellektueller Hochgenuss durchweg garantiert. Gespickt hatte der Schnellredner und Schnelldenker sein politisches Kabarett mit „Zahlen, Daten, Fakten“, doch komme es letztlich immer „auf den persönlichen Standpunkt“ an. Dass das Politische letztlich doch privat und das Private politisch ist, zeigte seine Schlussnummer, die überraschend poetisch geriet. Da schlüpfte der zornige Intellektuelle in die Bergmannskluft seines Opas und zelebrierte den Steiger aus der Zeche Zollverein in Essen als menschliches Vorbild für Würde und Anstand.
Mit dem Bergmannslied „Glück auf“ setzte René Sydow dem Arbeiter ein posthumes Denkmal.
Quelle
Ausgabe | Die Rheinpfalz Mittelhaardter Rundschau – Nr. 119 |
Datum | Montag, den 23. Mai 2022 |
Seite | 19 |